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Es ist nun an uns Nachgeborenen, die Erinnerung wach zu halten, denn es gibt kein Verständnis von Gegenwart und Zukunft ohne Erinnerung an die Vergangenheit.
Vorwort zum Brief von 2004 Im Oktober 2003 stieß ich zufälligerweise im Internet auf den Namen meiner Tante Anna Lehnkering. Er stand auf einer Namensliste von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie-Aktion", die nach der Adresse der Planungszentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin auch „Aktion T 4" genannt wurde. Die Namen von mehr als 30.000 Opfern der Krankenmorde waren von der Israelischen Vereinigung gegen Psychiatrische Angriffe ins Internet gestellt worden. Die Liste basiert auf Dokumenten aus der NS-Zeit, die Anfang der 90er Jahre im ehemaligen Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gefunden wurden, darunter ca. 30.000 Krankenakten von Patienten und Patientinnen, die in den Jahren 1940/41 der ersten zentral organisierten Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus, der "Aktion T4", zum Opfer fielen. Die Namen wurden 2002 in Berlin öffentlich verlesen. Dahinter stand die Absicht, den Opfern ihre Namen und damit auch ihre Würde zurückzugeben. Gleichzeitig wurden die Angehörigen angeregt, nach dem Schicksal der Ermordeten zu forschen.
Nachdem ich Annas Namen auf der Liste gefunden hatte, war ich schockiert und begann, Spuren ihres Lebens zu suchen. Um Anna möglichst nahe zu kommen, beschloss ich, ihr einen Brief zu schreiben. So entstand 2004 in einem ersten Schritt diese Internet Gedenkseite. Inzwischen hat Anna nicht nur einen festen Platz im Familiengedächtnis, sondern es gibt verschiedene öffentliche Zeichen der Erinnerung und des Gedenkens an sie. Ein wesentlicher Teil ist das 2012 veröffenlichte Buch "Annas Spuren", in dem ich das Briefformat wieder aufgenommen habe. Das Buch ist Ergebnis meiner jahrelangen Spurensuche und Erinnerungsarbeit. 2015 erschien "Annas Spuren" in einfacher Sprache.
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bis vor einigen Monaten kannte ich nur deinen Namen und den noch nicht einmal genau. Für mich warst du Änne, die früh verstorbene Schwester meines Vaters. Ich hatte seit Jahren neben anderen Familienfotos ein Bild von dir an der Wand, auf dem du mit deiner Mutter zu sehen bist - ein etwa vierjähriges, hübsches, ernsthaft schauendes kleines Mädchen. Man hatte in der Familie nie viel über dich geredet. Das war so, bis ich im Oktober 2003 zufälligerweise im Internet auf deinen Namen stieß.
Kein Zweifel – 2. August 1915 - der Geburtstag stimmte. Auf dieser Liste stand dein Name. An jenem Abend las ich Seite um Seite im Internet – zunächst ungläubig, später wütend und oft traurig. Es war der Anfang einer langen Spurensuche, die bis heute andauert. Die Liste, auf der ich deinen Namen gefunden hatte, war im Dezember 2002 in Berlin drei Tage lang öffentlich verlesen worden. Obwohl ich schon seit vielen Jahren in Berlin lebe, hatte ich nichts davon mitbekommen. Das Ziel der Lesung war, den anonymen Opfern ihre menschliche Würde zurückzugeben, indem man unter anderem die Angehörigen anregte, nach dem Schicksal ihrer ermordeten Angehörigen zu forschen. Davon habe ich mich angesprochen gefühlt. Seitdem versuche ich, Spuren der Erinnerung an dich zu finden. Natürlich habe ich zuerst die einzigen Menschen, die noch persönliche Erinnerungen an dich haben, befragt. Zwei deiner Brüder, inzwischen weit über achtzig Jahre alt, erinnern sich allerdings nur noch bruchstückhaft an Einzelheiten aus der Vergangenheit. Die Fakten deiner Biographie lassen sich schnell zusammenfassen: Du kamst 1915 als drittes Kind des Heinrich Friedrich Hermann Lehnkering und seiner Frau Anna Johanna Helene, geb. Sommer zur Welt. Du hattest zwei ältere Brüder und einen jüngeren Bruder (mein Vater, geb. 1920). Du bist in Oberhausen - Sterkrade im Rheinland aufgewachsen. Dort hatten schon deine Großeltern eine "gutbürgerliche" Gaststätte betrieben, genauso wie Onkel und Tante und später deine Eltern. Deine Brüder erzählen, dass es viel Arbeit und wenig Familienleben gab. ... Der ursprüngliche Brief von 2004 wurde gekürzt. Mehr Details in meinem Buch Annas Spuren Alles, was sie über dich in der Zeit zwischen 1936 und 1940 wissen, ist, dass du Anfang des 2. Weltkrieges in einer „Anstalt" gestorben bist. Niemand erinnert sich daran, wo du zwischen 1936 und 1940 gelebt hast! Niemand erinnert sich daran, dich jemals irgendwo besucht zu haben! Niemand erinnert sich daran, wo und wie du gestorben bist! Niemand erinnert sich daran, wo man dich beerdigt hat! Ich wollte dieses unfassbare Nichtwissen, Vergessen und Verdrängen verstehen und fand verschiedene Erklärungsmuster: Möglicherweise haben deine Brüder die Erinnerung an dich ganz einfach verdrängt, weil sie sich dafür schämten, dass ihre Schwester in einer „Irrenanstalt" war und damit das Stigma der gesellschaftlichen Minderwertigkeit trug?! Vielleicht waren sie - wie weite Teile der Gesellschaft - indoktriniert durch die "Lehre von der Erbgesundheit" (Eugenik, Rassenhygiene), die als pseudo-wissenschaftlicher Hintergrund für das verbrecherische "Euthanasie"-Programm der Nationalsozialisten diente. Scham, Angst und die Stigmatisierung durch die Gesellschaft als Angehörige eines "erbkranken" Menschen haben sicher zur Tabuisierung des Themas in vielen betroffenen Familien beigetragen. Vielleicht lag es auch daran, dass man in der Nachkriegszeit andere Sorgen hatte. Deine Neffen und Nichten kannten dich nicht mehr persönlich. Ich wurde zum Beispiel erst 1946, sechs Jahre nach deinem Tod geboren. Es kam hinzu, dass die Diskriminierung behinderter Menschen auch nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes nicht zu Ende war. Während meiner Nachkriegskindheit im Ruhrgebiet habe ich noch erlebt, wie verbreitet Vorurteile gegen Behinderte in der Gesellschaft waren und sogar bis in den alltäglichen Sprachgebrauch von uns Kindern hineinwirkten. "Ab nach Bedburg-Hau!" galt als herabsetzende Beschimpfung, ohne dass die meisten wussten, wo dieser Ort überhaupt lag. Der Begriff Bedburg-Hau war ein Synonym für "Irrenanstalt". Als mir der Name 2003 nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder im Zusammenhang mit dir, liebe Anna, begegnete, fiel es mir siedendheiß ein. Es bleibt festzuhalten, dass die "Euthanasie"-Verbrechen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft insgesamt weitestgehend verschwiegen und verdrängt wurden. Wie man sehen kann, war unsere Familie keine Ausnahme. |
mein Wissen über dich bis zu jenem Tag im Oktober 2003 bestand also mehr oder minder aus einigen biographischen Fakten. Mit Hilfe des Internets ging ich auf Spurensuche. Ausgangspunkt für die Suche war der Satz: A file for each person exists in the German State Archive. Dein Schicksal von 1936 bis 1940 ist zumindest teilweise im Bundesarchiv in Berlin unter der Nummer R 179/3368 archiviert. Ich forderte deine Patientenakte an und bekam nach einigem bürokratischen Hin und Her eine Kopie, die aus dem Krankenblatt und der Sippentafel besteht. Ein Blick auf die Sippentafel macht klar, dass man sich eines perfiden Systems von Denunzianten bedient haben muss, um Informationen über dich und deine Angehörigen zu sammeln. Nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen gehörtest du zu den „minderwertigen" und „lebensunwerten" Menschen. Unvorstellbar! Im Interesse der "Höherentwicklung der eigenen Rasse" sollten geistig und körperlich Behinderte, „Erbkranke" und andere Randgruppen zunächst erfasst werden, um sie dann später vernichten. Man hatte akribisch Informationen über deine Großeltern, Eltern, Brüder, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen gesammelt, um so die Minderwertigkeit deiner Sippe zu belegen. Mein Vater erinnert sich daran, dass man schon Anfang der 30er Jahre versucht hatte, in der Nachbarschaft Informationen über euch zu sammeln. Deine Mutter und Tante hatten sich damals sehr darüber erregt, dass in eurer Umgebung „merkwürdige" Fragen über dich und die Familie gestellt wurden. Das Ergebnis dieser Bespitzelungen kann man in der mit medizinischen Begriffen gespickten und so pseudowissenschaftlich getarnten Sippentafel der Prov. Heil-und Pflegeanstalt Bedburg-Hau (Kr. Kleve) nachlesen, die von dem Oberarzt Dr. Schnitzler und dem Anstaltsarzt Dr. Winkel abgezeichnet wurde. Mehr über die Sippentafel im Buch Egal, wie wahr oder unwahr diese Eintragungen sind, unsere Familie war und ist sicher nicht anders als viele andere Familien – eine bunte Mischung aus sehr verschieden aussehenden Individuen mit höchst unterschiedlichen Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen. Nicht nachvollziehbar ist, dass ein solcher Unsinn von Ärzten unterzeichnet worden war. Tragisch für dich ist, dass du damit für die Gesundheitsbehörden aktenkundig geworden bist. Wenn die Sippentafel aus heutiger Sicht eher lachhaft ist, so ist es dein Krankenblatt nicht. Ich kann daraus entnehmen, dass man 1935 im Ev. Krankenhaus der Stadt Mülheim a.d. Ruhr das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" an dir vollstreckt hat. Das liest sich in deiner Akte so: Unfruchtbarmachung ausgeführt am 18.2.35. Das Mülheimer Krankenhaus ist ein schicksalhafter Ort für dich. Anderthalb Jahre nach deiner Zwangssterilisation bist du - diesmal wegen einer Nierenerkrankung - wieder Patientin dort. Kurz nach deiner Einlieferung führt der Arzt Dr. Müller ein Gespräch mit dir und deiner Mutter. Er konstatiert, dass du ruhig und verträglich bist, allerdings sei Anstaltspflege notwendig. Der Verdacht liegt nahe, dass die Gesundheitsbehörden informiert wurden, denn gleich nach deiner Entlassung aus dem Krankenhaus erfolgt deine Einweisung in die Provinzial-Heil-u. Pflegeanstalt Bedburg-Hau (Kr. Kleve am Niederrhein). im Krankenblatt ist zu lesen, dass du am Montag, den 21. Dezember 1936 - also drei Tage vor Weihnachten - in die Heil- u. Pflegeanstalt Bedburg-Hau aufgenommen wirst. Du bist in Begleitung deiner Mutter. Es heißt bei der Aufnahme: "Ist ruhig, still. Gibt auf Fragen Antworten." Hättest du dich anders verhalten, dich laut und heftig gewehrt, wenn du gewusst hättest, dass deine Mutter ohne dich nach Hause fahren würde, dass du nie wieder Weihnachten zu Hause feiern würdest? Wohl kaum. Du bist ein verträglicher Mensch und du kannst nicht wissen, dass an diesem 21. Dezember 1936 dein Sterben beginnt. Bis zu deiner endgültigen physischen Vernichtung werden noch ungefähr drei Jahre und zwei Monate vergehen. Die auf dem Krankenblatt vermerkte Diagnose für deine Krankheit lautet: "angeborener Schwachsinn" verbunden mit dem Zusatz "erbkrank". Um sie zu untermauern, musst du dich einer fragwürdigen „Intelligenzprüfung" unterziehen. Vielleicht würde man dich heute als lernbehindert bezeichnen. Mein Vater erinnert sich daran, dass man in der Familie als Grund für deine Behinderung angab, ein Nachbarsmädchen hätte dich als Säugling fallen lassen. Diese Theorie wird durch die Eintragung in deinem Krankenblatt „Normale Entwicklung im Kindesalter, lernte mit 1 Jahr gehen" möglicherweise bestätigt. Es kann aber auch sein, dass deine Familie einfach nicht wahrhaben wollte, dass du von Geburt an geistig behindert warst. Deine Stigmatisierung als Trägerin "erblicher Minderwertigkeit" traf in einer von Vorurteilen gegen Behinderte geprägten Umwelt natürlich auch die als "normal" eingestuften Verwandten. Übrigens wurde der Oberarzt Leonard Josef Winkel, der deine Aufnahmepapiere unterzeichnete, später Direktor der sogenannten Zwischenanstalt Galkhausen, von wo aus viele Menschen in die Gaskammern transportiert wurden. Nach Einmarsch der Amerikaner Ende April 1945 beging er Selbstmord - ob aus Angst oder Scham sei dahingestellt.
Zwischen Dezember 1936 und Februar 1940 gibt es viele Eintragungen in deiner Krankenakte. Sie sind in einer unsäglichen Sprache verfasst, die weit entfernt von dem ist, was wir heute unter einer medizinischen Fachsprache verstehen. So wirst du beispielsweise als albern und läppisch beschrieben. Trotz der ideologisch verzerrten Sicht auf dich kann ich hinter den Zeilen lesen, wie verzweifelt du gekämpft und gelitten hast. Aus den Eintragungen in deiner Krankenakte ist zu schließen, dass du eine zunehmend "schwierige" Patientin warst. Zwischen 1937 und 1940 wirst du insgesamt zehnmal verlegt. Die meisten Eintragungen sind in zunehmend unleserlicher Sütterlinhandschrift gemacht, so als ob es der Mühe zu viel wäre, etwas über dich zu schreiben. Am 28. Dezember 1936 - eine Woche nach deiner Einweisung - ist zu lesen: "Weint oft vor sich hin. Beschäftigt sich kaum." Später lässt sich mühsam entziffern, dass du meist abweisend und wenig folgsam bist, nur im Bett liegen willst, den Kopf auf dem Tisch liegen lässt, antriebslos und weinerlich bist, dich hängen lässt, zum Essen, zur Sauberkeit und Ordnung angehalten werden musst. Du bist weder im Schälkeller noch in der Feldkolonne zu gebrauchen - schlimmer noch - angeblich hetzt du die anderen Kranken zur Nichtarbeit auf. Man spricht dir jeden Gesundungswillen ab und behauptet, dass du uneinsichtig für deine Krankheit seiest. Du wirst als mürrisch, querulierend, unzufrieden, schwierig und als lästig!!! beschrieben. Immer wieder ist zu lesen, dass du "in uneinsichtiger Weise" auf Entlassung drängst, dass du weinst und nach Hause verlangst. Im November 1939 wird geschrieben, dass du dich bemerkbar machst, lärmst, schreist und plärrst. Ich verstehe das als letzte verzweifelte Hilferufe. Deine Brüder haben dich als sanftmütig und lieb beschrieben - du bist nicht mehr wieder zu erkennen. Was hat man nur in dieser "Heil- und Pflege"-Anstalt aus dir gemacht? Weder du noch deine Familie ahnen zu diesem Zeitpunkt, dass Hitler bereits verfügt hat, man könne unheilbaren Kranken den "Gnadentod" (Euthanasie) gewähren. Im Rahmen der "Aktion T4’’’ werden in Folge alle Heil-und Pflegeanstalten „planwirtschaftlich“ erfasst und erhalten zu „statistischen“ Zwecken Meldebögen nebst Merkliste, anhand derer die Patienten und Patientinnen später zur Tötung ausgesucht werden. Du erfüllst die Selektionskriterien deiner Mörder perfekt: Du giltst als unheilbar, bist eine unruhige, schwierige Kranke - aber vor allem - du leistest keine produktive Arbeit. Damit bist du im Sinne der NS-Ideologie ökonomisch unbrauchbar, eine nutzlose Esserin, die als lebensunwerter Mensch zur Vernichtung - schlimmer noch - zur „Ausmerze“ freigegeben werden kann. So genannte "Gutachter" und "Obergutachter" im fernen Berlin entscheiden in einem bürokratischen Akt über Leben und Tod. Es sind „ehrenwerte" Mitglieder der Gesellschaft (dazu gehören Ärzte, Hochschullehrer und Anstaltsleiter). Auf deinem Meldebogen wird mit Rotstift ein Plus (+) eingezeichnet. Damit ist dein Tod besiegelt. Ein blaues Minus (-) hätte Leben bedeutet. Deine „Richter“ kennen weder dich noch deine Akte. Am 24. Februar 1940 gibt es die letzte Eintragung auf deinem Krankenblatt. Es sieht so aus, als ob du nicht nur seelisch, sondern auch körperlich am Ende bist: "... Geht seit einiger Zeit körperlich zurück, fiebert wechselnd, hustet, ... hat sehr blasse graue Gesichtsfarbe". Die Eintragungen mit den Worten: "... wegen Verdacht auf Lungentuberkulose verlegt nach ..." (der Rest ist unleserlich). Natürlich wollte ich wissen, wohin du verlegt wurdest. Also ging meine Spurensuche weiter. Erst auf mehrmalige Anfrage hin bekam ich aus Bedburg-Hau die Nachricht, dass man dich nach Grafeneck verlegt hätte und dass du dort am 23. April gestorben wärest. Du wurdest "verlegt", du "verstarbst" - welch beschönigende Worte für das, was mit dir geschah! Noch nicht einmal das Todesdatum stimmte! Anfang 1940 war eine Delegation mit Werner Heyde, dem ärztlichen Leiter der "Euthanasie-Aktion-T4", aus Berlin nach Bedburg-Hau gereist, um kranke Menschen für den "Gnadentod durch Vergasung" zu selektieren. Im März 1940 begannen dann die Massendeportationen aus Bedburg-Hau. Du warst eine von fast 2.000 Patientinnen und Patienten, die innerhalb von 4 Tagen „verlegt" wurden. Man musste Platz für ein Marinelazarett schaffen, denn es war Krieg. Für „Ballastexistenzen" wie dich war in der Kosten-Nutzen-Rechnung des Staates kein Platz mehr.
Grafeneck heute mehr Fotos ...
Am 6. März 1940 deportierte man dich zusammen mit mehr als 450 Frauen und Männern in das beinahe 600 Kilometer entfernte Grafeneck, gelegen in der Nähe von Münsingen auf der Schwäbischen Alb. Sicher musstet ihr früh aufstehen an diesem Mittwoch im März, denn Grafeneck ist mehr als 500 km von Bedburg-Hau entfernt. Die Fahrt in den Bussen der „Gemeinnützigen Krankentransport-Gesellschaft" (GEKRAT) dauerte endlos lange Stunden. (Anm.: Ich erfuhr erst später, dass der Transport nicht wie üblich mit Bussen, sondern mit einem Sonderzug der Reichsbahn durchgeführt wurde. Siehe unten) Habt ihr während der Fahrt geredet? Hoffentlich gab es niemanden, der ahnte, was auf euch zukam, sich wehrte oder seine Angst herausschrie. Die Vorstellung, dass du stundenlang in Panik in diesem Bus gesessen haben könntest, ist unerträglich. Busse der Gekrat (Archiv Gedenkstätte Grafeneck) Ihr konntet noch nicht einmal einen Blick nach draußen werfen, denn die Fenster der grauen Busse waren mit Tarnfarbe zugestrichen, um die „menschliche Fracht" vor den Blicken Außenstehender zu verbergen. Hast du in den vielen Stunden in diesem Bus-Gefängnis ein „Guckloch" in die Farbe gekratzt, wie manch andere es taten? Oder hattest du dich in dein Schicksal ergeben, weil dich die letzten Jahre in Bedburg-Hau bereits demoralisiert und gebrochen hatten? Vielleicht dachtest du aber auch wie viele andere Patienten, dass man dich in eine andere Anstalt verlegen würde. Eingesperrt und von der Außenwelt völlig isoliert seid ihr durch schwäbische Dörfer gefahren, in denen Menschen, die das Grauenvolle ahnten, den gespenstischen grauen Bussen beklommen hinterher schauten. Auf dem letzten Wegstück zu dem abgelegenen Schloss Grafeneck ging es durch einen Wald steil bergauf. Aber auch wenn ihr durch die Scheiben hättet sehen können, der Blick auf das Schloss war euch verwehrt. Vorbei an bewaffneten Männern mit Hunden fuhrt ihr durch ein Brettertor direkt zu der „Euthanasie"-Anlage. Es handelte sich um ein Barackengelände, das von einem bis zu 4 m hohen Bretterzaun, verstärkt mit Stacheldrähten, umgeben war. Man wollte damit verhindern, dass die Menschen aus der Umgebung den Tötungsschuppen mit der Gaskammer und das, was in der „Mordfabrik" vor sich ging, sahen. Aber man konnte trotz der Heimlichtuerei nichts dagegen tun, dass sich ein süßlich-brenzliger Geruch über der Gegend verbreitete. Hast du ihn wahrgenommen - diesen Geruch des Todes aus den Krematorien? Sicher bist du benommen und vielleicht auch hungrig und durstig nach der langen Fahrt aus dem Bus gestiegen. Fremde Menschen kamen auf dich zu, die vermutlich in barschem Ton mit dir redeten. Ich nehme an, dass die fremde Umgebung dir Angst machte. Jemand fragte nach deiner Nummer. Wusstest du sie noch, oder musste man sie von deinem Rücken, Nacken oder Arm ablesen? Dorthin war sie mit Tintenstift geschrieben worden, als man dich am Morgen in Bedburg-Hau abgeholt hatte. Für die Mörder und ihre Komplizen warst du nicht mehr Anna Lehnkering – du warst nur noch eine Nummer, die Nummer, die auf deiner Krankenakte stand und die man später auch auf deiner Urne einstanzen würde.
Gleich nach der Ankunft wurdest du mit den anderen in die Aufnahmebaracke geführt, wo ihr von Schwestern ausgezogen, gemessen, gewogen, fotografiert und dann zur Untersuchung gebracht wurdet. Die Untersuchung durch den Arzt war eine Farce – sie dauerte weniger als eine Minute. Der erste Kriegswinter 1939/40 war extrem kalt. Nach der Aufnahmeprozedur hattet ihr nicht mehr viel an. Du musst gefroren haben an diesem Vorfrühlingstag, als du halbnackt am Krematorium vorbei zu dem als „Duschraum" getarnten Todesschuppen gingst. Das, was nun folgt, ist so furchtbar, dass sich alles in mir gegen diese Bilder sträubt. Aber auch wenn es sich der Vorstellungskraft und dem Begreifen entzieht, so glaube ich doch, dass wir die Augen davor nicht verschließen dürfen. Die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg hat in der Broschüre „Euthanasie" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940 die Geschehnisse und ihre Hintergründe dokumentiert. Es ist ein Versuch, der heutigen Generation das Unvorstellbare begreifbarer zu machen, damit wir alles in unserer Macht Stehende tun, um Menschen daran zu hindern anderen Menschen so etwas anzutun. |
Grafeneck, Gebäude, in das die Gaskammer eingebaut wurde Foto: Archiv Gedenkstätte Grafeneck "Die Tötung erfolgte durch Kohlenmonoxidgas, das der Anstaltsarzt durch Bedienen eines Manometers in den Vergasungsraum einströmen ließ. ... Beim Betreten des Vergasungsraumes wurden die Kranken, maximal 75 Personen, nochmals gezählt, sodann die Tore geschlossen. Anfangs schienen einige Opfer noch geglaubt zu haben, es gehe tatsächlich zum Duschen, andere begannen sich im letzten Augenblick zu wehren und schrien laut. Die Zufuhr des Gases betrug in der Regel ca. 20 Minuten; sie wurde eingestellt, wenn sich im Vergasungsraum keine Bewegung mehr feststellen ließ. Daß Ärzte, die in nicht einmal einem Jahr über 10 500 Menschen durch Vergasung töteten, bei diesem Vorgang abstumpften und darüber zynische Bemerkungen wie "Jetzt purzeln sie schon" machten, verwundert nicht. Geraume Zeit nach der Vergasung öffneten Hilfskräfte, die Gasmasken trugen, die Flügeltore. Ihnen bot sich in der Regel ein schrecklicher Anblick: Die Körper der Toten und der Boden waren mit Stuhl, Menstruationsblut und Erbrochenem beschmutzt, manche Leichen waren ineinander verkrallt und mußten mit Gewalt voneinander getrennt werden. Dasjenige Personal, das die Krematoriumsöfen bediente, deshalb manchmal auch "Brenner" genannt wurde, war auch zuständig für den Abtransport der Leichen zu den Öfen bzw. zu einer Zwischenlagerung, vermutlich im "Reitzirkel" der Anlage. Vorher wurden den mit einem Kreuz bezeichneten Patienten die Goldzähne ausgebrochen und bei der Verwaltung abgeliefert; das so gewonnene Rohmaterial wurde sodann bei Degussa zu Feingold verarbeitet. Nach der Verbrennung wurden verbliebene Knochenreste aus den Öfen genommen und in eine Knochenmühle gegeben. Von Grafeneck ist auch bekannt, daß ein Angestellter Knochenstücke mit einem Hammer verklopfte. Man gewann daraus Knochenmehl, das man, mit Asche vermischt, in Urnen an die Angehörigen verschickte." (aus: "„Euthanasie"" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940, Historische Darstellung, Didaktische Impulse, Materialien für den Unterricht) Bausteine: Texte und Unterrichtsvorschläge, Stuttgart, 2000, S. 19
- aktualisierte Fassung 2011 Grafeneck 1940 - Wohin bringt ihr uns? NS-„Euthanasie“ im deutschen Südwesten, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Autoren: Franka Rößner, Thomas Stöckle |
Wie verroht und gefühllos müssen diejenigen gewesen sein, die am 7. März 1940 möglicherweise auch Annas Ermordung in der Gaskammer durch ein Guckloch beobachteten?!
Es handelte sich um den
Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti, um Karl Brandt, den Arzt und
Beauftragten Hitlers für die Tötungen der Aktion
T4 und um Eugen Stähle, Arzt und Leiter der württembergischen
Medizinalverwaltung. Das Handrad für die Regulierung des Gases wird
von Horst Schumann, dem Leiter Grafenecks, persönlich bedient. Weit über 10.000 Menschen - darunter du, Anna - wurden in Grafeneck vergast und anschließend verbrannt. Dazu kamen mehr als 200.000 Opfer in Brandenburg, Hartheim, Pirna, Bernburg, Hadamar und in verschiedenen Heil-und Pflegeanstalten europaweit. Das war kein „Gnadentod", sondern grausamer Massenmord. Ich habe den "Trostbrief", den deine Mutter erhalten hat, nie gelesen. Ich kann sie nicht mehr fragen, ob er ein wirklicher Trost für sie war. Heute weiß ich, dass die Todesursache und der Todeszeitpunkt von eigens dazu eingerichteten "Trostbrief"-Abteilungen falsch eingetragen wurden, um die Öffentlichkeit nicht misstrauisch zu machen und die Massenmorde zu verschleiern. Gut, dass deine Mutter nicht mehr erfahren hat, dass man für jeden Toten etwa drei Kilogramm Knochenmehl mit beliebigen Aschebeimischungen berechnet hatte, die man den Angehörigen auf Wunsch in Urnen aus Metall zuschickte. Zynischerweise wurden die Kosten für die Übersendung aus Reichsausgleichsmitteln bezahlt; die Angehörigen mussten „nur" die Kosten der Beisetzung übernehmen. Vermutlich hat deine Mutter - aus welchen Gründen auch immer - deine sterblichen Überreste nie erhalten. Die Vermutung liegt nahe, dass du eine von den vielen Toten bist, deren Asche anonym in den Urnengräbern von Grafeneck begraben wurde. Es hat viele Jahre gedauert, bis die Menschen angefangen haben, euer Schicksal zu dokumentieren. Seit einigen Jahren gibt es eine Gedenkstätte in Grafeneck, deren Zweck das Gedenken an die Opfer, das Bewahren der Erinnerung und das Mahnen zu Menschlichkeit und Verantwortung (Auszug aus der Satzung) ist Natürlich habe ich mich auch mit den Initiatoren dieser Gedenkstätte in Verbindung gesetzt. Leider musste ich erfahren, dass dein Name in dem Gedenkbuch für die Opfer fehlt. Es enthält etwa 8.000 Namen, jedoch sind die Namen der Opfer aus Bedburg-Hau nicht darunter, da sich die Archive bis heute nicht in der Lage sahen, die Namen der Gedenkstätte Grafeneck zu übermitteln.
Ich
bemühe mich darum, dass dein Name und die Namen deiner
Schicksalsgenossen aus Bedburg-Hau endlich in das Gedenkbuch
aufgenommen werden. Liebe Anna, du warst 24 Jahre alt als Menschen dich im Namen einer menschenverachtenden Ideologie ermordeten. Heute bist du in der Erinnerung deiner Familie „lebendiger" als je zuvor. "Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern. Tot ist nur, wer vergessen wird."
Berlin, den 9. April 2004 |
Einige Wochen, nachdem ich den Brief an Anna geschrieben hatte, sah ich den Videofilm „Transport in den Tod" (Regie: Barbara Lipinska-Leidinger) und las verschiedene Dokumentationen über Grafeneck, vor allem die Bücher von Ernst Klee und Ludwig Hermeler. Danach musste ich einige Aussagen auf dieser Webseite korrigieren. Annas Todesdatum war nicht - wie man der Familie mitgeteilt hatte - der 23. April. Sie wurde wahrscheinlich am 7. März 1940 ermordet. Die 457 Menschen (eine Begleiterin des Transports spricht später auch von Krankenmaterial), die man am 6. März 1940 von Bedburg-Hau aus nach Grafeneck deportierte, haben die Anstalt nicht in Bussen verlassen wie die überwiegende Mehrzahl der „Euthanasie"-Opfer. Man brachte diesen Transport ausnahmsweise mit einem Sonderzug der Reichsbahn nach Grafeneck. Zuvor waren die Patienten in Zusammenarbeit mit Bedburger Ärzten von einer "hochrangigen" Delegation aus Berlin unter Leitung von Werner Heyde, dem ärztlichen Leiter der der Zentraldienststelle-T4, für die Verlegung selektiert worden. Leiter des Transports nach Grafeneck war Hermann Schwenninger, Geschäftsführer der Gekrat. Der Transport wurde außerdem begleitet von dem Vergasungsarzt Ernst Baumhard und von Gerhard Bohne, dem Leiter der Tarnorganisation "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten", eine Abteilung der Zentraldienststelle T4. Der Zug war verdunkelt, denn es war Krieg. Die Fahrt dauerte einen Tag und eine Nacht. Nach Aussagen des Bahnhofsvorstehers von Marbach kam der Transport am 7. März gegen 8 Uhr morgens an. Das Ausladen der 10 Waggons in dem völlig abgesperrten, kleinen Bahnhof von Marbach dauerte 7 bis 8 Stunden bei hohem Schnee. Bei Ernst Klee ist zu lesen, dass die Kranken - also auch Anna - vom Bahnhof mit Autobussen nach Grafeneck geschafft und laufend bei ihrem Eintreffen getötet wurden. Bei Ernst Klee heißt es: "Da zu dieser Zeit nur jeweils 50 Kranke in die Gaskammer passen, koppelt man zwei Waggons ab und dirigiert sie zum Bahnhof Zwiefaltendorf. Es sind 138 Frauen, die nach Zwiefalten zwischenverlegt und am 2. und 4. April erneut nach Grafeneck gebracht werden." Ich war froh zu erfahren, dass Annas Name nicht auf der Verlegungsliste aus Zwiefalten steht und ihr Leiden nicht um Wochen verlängert wurde. Der Leiter der Exekutionsstätte, der SS-Arzt Horst Schumann, beschwerte sich in Berlin, dass der Transport mit dem Sonderzug erhebliches Aufsehen erregt hätte und zwar sowohl in der Anstalt als auch in der Bevölkerung. Auch hätte dieser überraschende Anfall von so vielen Kranken das Tötungspersonal vor ein kaum zu bewältigendes Problem gestellt. (Klee, S. 140, 11.Aufl. 2004) Heute wissen wir, dass das von Schumann angesprochene "Problem" mit unmenschlicher Effizienz bewältigt wurde. Innerhalb eines Jahres wurden 10.654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen allein in Grafeneck ermordet. "Grafeneck ist der erste Ort systematisch-industrieller Ermordung von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt. Es steht somit am Ausgangspunkt ungeheuerlicher Menschheitsverbrechen. Unterstrichen wird diese Perspektive zusätzlich durch die spätere Übernahme des Mordverfahrens für den Mord an den europäischen Juden ebenso wie durch die Tatsache, dass ein Viertel der Täter von Grafeneck in den Vernichtungslagern des Ostens, wie Belzec, Treblinka, Sobibor und nicht zuletzt Auschwitz-Birkenau eingesetzt werden." Quelle: http://www.gedenkstaette-grafeneck.de
In dem Gedichtzyklus von Barbara Lipinska-Leidinger fand ich meine Gedanken und Gefühle in bewegenden Worten widergespiegelt. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Quellen: Ernst Klee: „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt, 2010, S. 140f und S. 632 Ludwig Hermeler: Die „Euthanasie" und die späte Unschuld der Psychiater- Bedburg-Hau und das Geheimnis rheinischer Widerstandslegenden, Klartext Verlag, 2002, S. 60 ff Dank an Ernst Klee, Ludwig Hermeler und Thomas Stöckle ohne deren grundlegende Vorarbeit der Brief an Anna um viele Fakten ärmer wäre! Mein Dank gilt auch Margarete Ritzkowsky, die mir bei der Transkription der für mich teilweise unleserlichen in Sütterlinschrift verfassten Krankenakte geholfen hat. http://www.suetterlin-service.de/
Erinnerung und Gedenken an Anna
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