Fritz und Martha

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Eine Liebe mit Hindernissen und Umwegen über Afrika

Friedrich Heinrich Wilhelm Schmidt (1880-1974)

Friedrich Schmidt - Rekrut bei der Straßburger Infanterie 1902 - 1904


Warum zog es Fritz in die weite Welt?

ca. 1900, Friedrich (2. Reihe Mitte) mit Eltern und Geschwistern

Was trieb meinen Großvater Friedrich Schmidt, einen einfachen Bauernjungen aus dem abgelegenen Westerwälder Dörfchen Hirschberg, Anfang des letzten Jahrhunderts nach Afrika? War es die Abenteuerlust eines jungen Burschen, dessen Dorf man nur zu Fuß, mit dem Fuhrwerk oder der Kutsche erreichen konnte und das in schneereichen Wintern manchmal tagelang völlig von der Außenwelt abgeschnitten war? Als Friedrich 1904 Richtung Afrika aufbrach, war er 24. Noch hatte das kleine Dorf mit knapp 200 Einwohnern keine öffentliche Straßenbeleuchtung. Erst ein Jahr später wurden zwei Petroleumlampen am Spritzenhaus und an der alten Schule angebracht, die der Gemeindediener in seiner Funktion als Nachtwächter jeden Abend anzündete. Bis der erste elektrische Strom floss, sollte es weitere 17 Jahre dauern.

Vielleicht wollte Friedrich der Enge seines Heimatdorfes entfliehen und die verheißungsvolle, weite Welt jenseits der Hügel des Westerwalds kennenlernen? Mag sein, dass dies alles eine Rolle spielte, aber - so hat man es mir erzählt - entscheidend war Friedrichs Liebe zu Martha Lehwalder, eine Liebe, die man ihm anfangs verwehren wollte. Schon lange war er in Martha, ein Mädchen aus dem Dorf, verliebt. Doch seine Eltern hießen eine Heirat nicht gut, denn die Auserwählte stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Seine Familie dagegen betrieb eine Landwirtschaft und galt als verhältnismäßig wohlhabend. Dies wurde unter anderem dadurch zur Schau gestellt, dass man sonntags in der eigenen Kutsche zum Gottesdienst nach Haiern ins Heimatdorf der Mutter fuhr - natürlich herausgeputzt in Westerwälder Tracht.    

"Für Kaiser und Vaterland" ...

Friedrich als junger Soldat

Friedrich SchmidtIm Streit mit den Eltern wegen seiner unstandesgemäßen Liebe meldete sich der junge Heißsporn Friedrich voller Trotz als Freiwilliger zum Militär und zog "für Kaiser und Vaterland" nach Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Er gehörte zur "Kaiserlichen Schutztruppe", die  von 1904 bis 1908 den Aufstand der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft brutal niederschlug und dort den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts verübte - ein Völkermord, der übrigens bis heute nicht von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt wird. Erst seit wenigen Jahren entwickelt sich in Teilen der Gesellschaft langsam ein Bewusstsein für den deutschen Kolonialismus und seine Folgen.

Was ging im Kopf des jungen Friedrich vor, wenn Soldaten auf Frauen und Kinder schossen oder sie von den Wasserstellen vertrieben, so dass sie elendiglich verdursten mussten? Empfand er Mitgefühl für die gequälten Menschen oder fügte er sich den Anordnungen der Offiziere ohne weiter nachzudenken? Gehörte er etwa zu denjenigen, die davon überzeugt waren, dass ihnen als "Herrenmenschen" jedes Recht zustand? Ich weiß es nicht. Über seine Gedanken und Gefühle hat er nie gesprochen, schon gar nicht mit seinen zahlreichen Enkelkindern. Allerdings sprechen die abenteuerlichen Geschichten aus Afrika, die er bis ins hohe Alter erzählte, dafür, dass ihn das Erlebnis wohl zeit seines Lebens nicht losgelassen hat.

Eine große Familie

Das Haus, in dem Fritz und Martha mit ihrer Familie lebten

Das Haus, in dem Fritz und Martha lebtenAuf jeden Fall war seine Familie froh, als er aus Afrika heimkehrte und 1908 "durfte" er seine Martha endlich heiraten. Die gemeinsame Tochter war da bereits drei Jahre alt, neun weitere Kinder folgten. Friedrich und Martha kannten sich ihr ganzes Leben. Die Ehe der beiden sollte bis zu Marthas Tod 1956 noch achtundvierzig Jahre dauern. Zusammen mit Martha brachte er die große Familie mehr schlecht als recht über die Runden. Da der größere Teil der elterlichen Landwirtschaft von einem Bruder Friedrichs übernommen worden war, blieb ihm - wie so vielen nachgeborenen Söhnen - nichts anderes übrig, als außerhalb des Dorfes den Unterhalt für die eigene Familie zu verdienen. Nach dem Besuch der Hirschberg Dorfschule hatte Friedrich in den "Burger Eisenwerken" in Herborn das Schlosserhandwerk erlernt. Er arbeitete später unter anderem auf der "Sinner Hütt" und in einer Erzgrube in der Nähe von Heiligenborn.

Leben im Dorf

Der folgende Text beschreibt anschaulich die damaligen Lebensverhältnisse vieler Menschen im Lahn-Dillgebiet: 

"... Nur mit zusätzlicher Arbeit im Hütten- oder Bergwerk war ein bedürfnisloses und bescheidenes Leben möglich. Die nicht leichte Arbeit in der Landwirtschaft musste nach Feierabend nebenbei erledigt werden. Gleich nachdem der Kleinlandwirt von der Arbeit nach Hause kam, warteten noch die schwereren Arbeiten im Feld und Hof auf ihn, die seine Frau und die Kinder tagsüber nicht ausführen konnten. Dass sich jemand nach getaner Arbeit im Hüttenwerk oder Bergwerk einfach nur ausruhte, das gab es nicht. Der Jahresurlaub wurde genommen, wenn die Heu- und Getreideernte anstanden oder wenn im Herbst die Kartoffeln (Kartoffelernte) und der Dickwurz ausgemacht werden mussten. Es war selbstverständlich, dass die Kinder, spätestens ab dem 10.Lebensjahr, bei allen landwirtschaftlichen Arbeiten helfen mussten. Die Schulferien hießen auch so, „Ernteferien“ (Sommerferien) und „Kartoffelferien“ (Herbstferien). Die Kinder wurden bei der Ernte dringend gebraucht, das war ursprünglich auch der Grund für die Einführung dieser Schulferien. Urlaub war für diese Familien unbekannt.

Bis in die 50er/60er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein waren die Dörfer dieser Region von der „Feierabend-Landwirtschaft / Nebenerwerbs-Landwirtschaft“ geprägt." (Quelle: Wikipedia)

Doch trotz aller Entbehrungen künden die Kindheitserinnerungen meiner Mutter von einer überwiegend heilen Welt, die geprägt war von Frömmigkeit, Geborgenheit in der Familien- und Dorfgemeinschaft, viel Gesang und Liebe zur Natur.

Fritz - der Tausendsassa

Kapelle in Hirschberg Freiwillige Feuerwehr 1925
Hirschberger Kapelle
(erstmals erwähnt 1351)
Hirschberger Backhaus
Backhaus Hirschberg | WWTS (westerwald.info)

1925, Freiwillige Feuerwehr in Hirschberg (Friedrich, o. Reihe, 4. v. links)

Friedrich war die Frömmigkeit seiner Vorfahren irgendwann - vielleicht in Afrika - abhanden gekommen. Das hinderte ihn nicht daran, als Küster die Glocken der Dorfkapelle zu läuten. Während des Gottesdienstes verschwand er gerne, was ihm stets einen Tadel seiner gottesfürchtigen Frau einbrachte, die ein schlimmes Ende für ihren "gottlosen" Mann prophezeite. "Eiduläiwörallmächtichergott!"

Das Glockenläuten war eine seiner Aufgaben als zeitweiliger Gemeindediener. So ging er auch - wie damals üblich - mit einer Schelle durchs Dorf, um die neusten Nachrichten auszurufen. Außerdem heizte er das dörfliche Backhaus ein. Nie in meinem Leben habe ich besseres Brot, Riwwel- oder Quetschekuchen gegessen!

Friedrich war in jeder Beziehung geschickt, flickte Kessel und Töpfe, machte Schmiedearbeiten - nicht nur für die Familie. Für uns Kinder tischlerte er Puppenwiegen und Holzstelzen.

Kürzlich fand ich das Gesicht meines Großvaters auf dem Gründungsbild der freiwilligen Feuerwehr im Jahr 1925 - ein wahrer "Hans Dampf in allen Gassen". Ja, er war ein Tausendsassa, aber auch ein Hallodri.

Martha - die Seele der Familie

Martha, geb. Lehwalder (20.1.1884-28.7.1956)

Martha Schmidt, geb. LehwalderWie so viele Frauen im Dorf trug meine Oma Martha die Hauptlast für das Gelingen des täglichen Lebens. Aufgewachsen mit vielen Geschwistern in einem kleinen, beengten und dunklen Häuschen waren Armut und Tod lebenslange Begleiter. Sie war fünf, als ihre Mutter im Kindbett starb. Das zehnte Kind kam tot zur Welt. Auch Martha gebar zwischen 1905 und 1922 zehn Kinder. Meine Mutter war die Jüngste. Ihre tiefe Frömmigkeit half Martha über viele Schicksalsschläge hinweg, nicht zuletzt über den Tod ihrer Kinder. Drei starben im Kindesalter, ihre zwei Söhne fielen im Zweiten Weltkrieg - ein immerwährender Kummer für sie. Marthas Schmerzensschrei, als man ihr die Todesnachricht überbrachte, blieb meiner Mutter für immer im Gedächtnis. Das Mutterkreuz, das Martha auf dem Foto trägt, spricht der unmenschlichen Ideologie, der ihre Söhne zum Opfer fielen, Hohn. Gemäß der NS-Ideologie wurde es kinderreichen Müttern verliehen. Um der Auszeichnung "würdig" zu sein, mussten sie "sittlich einwandfrei" und wie ihre Kinder "erbgesund" und "deutschblütig" sein. Was für ein menschenverachtendes Gedankengut!

Nachdem eine der Töchter das Elternhaus übernommen hatte, verbrachten Martha und Friedrich ihre letzten Lebensjahre in einer winzigen Dachkammer, direkt neben dem Taubenschlag. Das Gurren der Tauben, das Bullern des Öfchens - ich kann's noch heute hören! Bis zu ihrem Tod war Martha von ihrer Familie umgeben und bekam viel von der Liebe zurück, die sie ihren Kindern gegeben hatte. Bei meinen Besuchen in Hirschberg sah ich meine Oma immer im dunklen Kleid mit Schürze, die Haare streng gescheitelt, mit Dutt im Nacken, oft mit Kopftuch. Für mich war sie alterslos. Sie war lieb, bescheiden und völlig uneitel - typisch, dass es kaum Fotos von ihr gibt. Martha war die Seele der Familie! Sie starb im Sommer 1956. Ihre älteste Tochter folgte ihr nur einen Tag später. Sie wurden nebeneinander auf dem Hirschberger Friedhof begraben.

Fritz Patt - der Geschichtenerzähler

Friedrich Schmidt (5.7.1880 - 5.4.1974)

Friedrich SchmidtMit ihrem Ehemann hatte Martha Goll es nicht immer leicht. So ging er eines Tages mit dem sauer ersparten Geld nach Herwen (Herborn) auf den Markt, um eine Ziege zu kaufen. Zurück kam er - zur Freude der Kinder - mit einem Hund.

Friedrich Schmidt hatte viele Namen. Er wurde wurde "Fritz Patt", aber auch "Petris Fritz" genannt. Es war in der Gegend durchaus üblich, Familien nach dem Vornamen eines Vorfahren zu benennen, in diesem Fall vielleicht nach dem Vorfahren Peter Schmidt, vielleicht gehörte aber auch der 1720 im Zusammenhang mit Abrechnungen für den Hof Hirschberg erwähnte Verwalter namens Petri zu seinen Vorfahren. Jedenfalls trank Petris Fritz später gerne einen über den Durst und wurde darum manchmal auch "de bloo Fritz" genannt. Vor allem aber hielt sich sein Spitzname "de Afrikaner", denn bis ins hohe Alter erzählte er Schauergeschichten über seine Zeit in Afrika - zum Beispiel über Riesenschlangen, die angeblich in sein Zelt gekrochen waren. Vor einigen Jahren berichtete mir ein Hirschberger, dass "de Afrikaner" zur Gaudi der Dorfjugend ab und zu den Schrei der afrikanischen Hyänen nachmachte, so dass es durchs halbe Dorf schallte. Ob er dabei jemals an die Gräueltaten in Afrika dachte, die er viele Jahrzehnte zuvor mit angesehen hatte oder an denen er gar beteiligt war? Es ist eher zu vermuten, dass er diese Erlebnisse aus seinem Gedächtnis verdrängt und gelöscht hatte. Am Ende blieben vor allem die Erinnerungen an die tatsächlichen oder erfundenen Abenteuer mit den wilden Tieren auf dem afrikanischen Kontinent.

Überhaupt war Petris Fritz ein Geschichtenerzähler vor dem Herrn. Eine der Geschichten ging so: Eines Abends wurde er auf dem Nachhauseweg von Beilstein nach Hirschberg im Wald von einer Rotte Wildschweine verfolgt. Um sein Leben zu retten, blieb ihm nur die Flucht auf einen Baum. Dort saß er ganz oben - die Wildschweine unten - bis zum nächsten Morgen. Dann endlich kamen die ersten Waldarbeiter und die Wildschweine verzogen sich.

Ob all seine Geschichten stimmten - wer weiß? Bleibt hinzuzufügen, dass er sie auf Hörschbeijer Platt (Wäller Platt) erzählte, mit verschmitztem Gesicht, den unvermeidlichen Hut auf dem Kopf und immer ein Pfeifchen schmauchend. Ich glaube nicht, dass er überhaupt "fiernehm schwetzen" konnte.

Als er 1974 im Alter von fast 94 Jahren starb, hinterließ er fünfzehn Enkel und Enkelinnen. Inzwischen hat er mehr als dreißig Urenkel und Urenkelinnen und natürlich Ururenkelkinder. Die meisten Nachkommen sind inzwischen in die weite Welt gezogen und leben überall verstreut. Ihr Vorfahr hat den Dillkreis nach seinem Abenteuer in Afrika allerdings nur noch einmal gezwungenermaßen verlassen. Im ersten Weltkrieg wurde er zusammen mit 21 jungen Männern aus dem kleinen Dorf zum Kriegsdienst eingezogen. Acht Hirschberger starben im Krieg oder an den Folgen. Ein hoher Tribut und Grund genug für Friedrich, sein Dorf nie mehr zu verlassen. Seine Lust, jenseits der Höhen des Westerwalds nach Abenteuern zu suchen, war gründlich gestillt.

Hirschbergs ältester Bürger wird 90 Jahre

Zum 90sten Geburtstag im Juli 1970 wurde Fritz als ältester Bürger Hirschbergs mit einem Artikel im Herborner Tageblatt gewürdigt. (Dank an das Redaktionsarchiv des Herborner Tagesblatts für den Artikel vom 25. Juli 1970)

Natürlich brachte auch der Männergesangverein "Germania Hirschberg" (Anm. Der Verein stellte 2020 seine Arbeit ein) dem Jubilar ein Ständchen. Friedrich war dem 1907 gegründeten Gesangverein lange Jahre als Sänger und bis ins hohe Alter als Ehrenmitglied verbunden. Zum Repertoire des Vereins gehörte auch das Lied über die schöne Heimat. Ich bin sicher, dass mein Großvater es voller Inbrunst mitgesungen hat. 

Hirschberg im Dillkreis

In der Heimat ist es schön,
Auf der Berge lichten Höh'n,
Auf den schroffen Felsenpfaden,
Auf der Fluren grünen Saaten,
Wo die Herden weidend geh'n.
In der Heimat ist es schön!

In der Heimat ist es schön,
Wo die Lüfte sanfter weh'n,
Wo des Baches Silberwelle
Murmelnd eilt von Stell' zu Stelle,
Wo der Eltern Häuser steh'n.
In der Heimat ist es schön!

In der Heimat ist es schön,
Wo ich sie zuerst geseh'n,
Wo mein Herz sie hat gefunden,
Ewig sich mit ihr verbunden;
Dort werd' ich sie wiederseh'n.

In der Heimat ist es schön!

Blick auf Hirschberg Text: Karl Krebs, ca. 1830, Musik: Johannes Andreas Zöllner, ca. 1840

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